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Die Kamellawine rast mit einer vernichtenden Macht nach vorne

N 23°29’02.3’’ E 138°44’53.3’’

Tanjas Geburtstags-Camp — 02.09.2002

Um 5:00 Uhr holt uns der Piepton unserer Suunto Armbanduhren aus dem Tiefschlaf. Langsam heben wir unsere steifen und schmerzenden Glieder über den Rand der Campbetten und machen uns für den Tag fertig. Howard wird um 7:00 Uhr am Track hinterm Seebett auf uns warten. Wir wollen nicht zu spät sein und beeilen uns alles was wir für die Kamelrückführung benötigen in die kleinen Rucksäcke zu packen. Nach einem schnellen Müslifrühstück laufen wir los. Wir eilen gerade über den kleinen Hügel, auf der anderen Seebettseite, als Howard auch schon angefahren kommt.

„Ihr hattet bestimmt einen guten Schlaf,“ begrüßt er uns freundlich. „Gut schon aber viel zu kurz,“ antworte ich in den Jeep steigend. „Ich habe noch mal Wasser mitgebracht. Wer weiß, vielleicht wollen eure Jungs noch mehr.“ „Ah, das ist sehr gut. Es könnte durchaus sein, dass der eine oder andere noch einen Eimer verträgt,“ antwortet Tanja.

„Was macht eigentlich die Wassersuche? Hast du schon mit dem Bohren begonnen?“ ,möchte ich wissen. „Ja, ja, bin schon drei Meter tief.“ „Und wie weit musst du noch runter?“ „27 Meter.“ „Wie lange benötigst du dafür?“ „Es kommt darauf an ob ich auf Felsen stoße oder nicht aber im Durchschnitt schaffe ich drei Meter pro Tag,“ antwortet er als unsere Kamele in Sicht kommen. „Sie sind alle noch da,“ freut sich Tanja, denn nach unseren jüngsten Erlebnissen ist das gar nicht so selbstverständlich.

„Guten Morgen Sebastian,“ begrüße ich unseren Karawanenanführer und stelle ihm einen Eimer voll Wasser hin. Er benötigt weniger als eine Minute, um ihn restlos zu leeren. Wir staunen nicht schlecht als er noch zwei weitere Eimer in sich hineinsaugt. Mit den 80 Litern von gestern hat er dann innerhalb von neun Stunden 110 Liter gesoffen. Auch seine Kameraden saufen zwischen einen und zwei Eimer. Ihre Bäuche sehen jetzt so unnatürlich gebläht aus, dass man meinen könnte sie wären mit Luft aufgepumpt und würden jeden Augenblick abheben.

Nachdem jetzt alle noch mal ihre Tanks bis zum Rand gefüllt haben, verabschieden wir uns wieder von Howard. „Wenn nichts dazwischen kommt sehen wir uns für lange Zeit nicht wieder,“ meine ich, ihm lachend die Hand schüttelnd. „Vergesst nicht mich auf dem Rückweg nach Perth zu besuchen. Es waren schöne Tage mit euch,“ sagt er etwas traurig über den wiederholten Abschied. „Wir geben unser Bestes,“ antworte ich und hoffe wirklich ihn noch mal zu sehen. Dann fährt er davon und wieder sind wir auf uns gestellt.

„Ich habe ein ungutes Gefühl sie ohne Nasenleine zurückzuführen,“ überlegt Tanja laut. „Was soll denn schief gehen?“ „Wenn sie aus irgend einem Grund in Panik geraten wirst du Schwierigkeiten bekommen sie unter Kontrolle zu halten.“ „Es gibt keine andere Möglichkeit also lass uns nicht schon jetzt Angst vor etwas haben was höchstwahrscheinlich nie eintrifft,“ äußere ich mich beruhigend.

Dann holen wir einen nach dem anderen, binden ihnen wie gewohnt die Vorderfüße zusammen und knoten sie mit den Nackenseilen aneinander. Es ist die exakt gleiche Prozedur wie an einem normalen Lauftag, nur mit dem feinen Unterschied, das wir sie nicht zusätzlich mit der Nasenleine an den Sättel festbinden können. Obwohl die dünne Nasenleine bei stärkerer Belastung reißt, ist genau sie dafür verantwortlich eine Karawane kontrollierbar zu machen. Tanjas Bedenken sind also nicht aus der Luft gegriffen. Sollten sie tatsächlich durchgehen, werden sie von dem Nackenseil nicht gestoppt.

„Camis epna!“ ,rufe ich, worauf sie brav aufspringen. „Camis walk up!“ ,befehle ich und unsere Ausreißer setzen sich in Bewegung. Weil es von hier nur knapp sechs Kilometer Luftlinie zu unserem Camp sind entscheiden wir uns in einem Querfeldeinlauf zurückzugehen. Würden wir auf dem sich windenden Track laufen, wären es 15 Kilometer. Auf diese Weise sparen wir uns mindestens zwei Marschstunden.

Als hätten die Kamele schon lange nichts mehr in ihre Bäuche bekommen, zerren sie wie wild an ihren Nackenseilen und fressen das Dornenzeug. Sie sind mit einer Gruppe ungezogener Kinder zu vergleichen und egal was wir sagen, machen sie was sie wollen. „Istan! Jetzt beherrsch dich ein bisschen! Du reißt ja Jafar fast um!“ ,brülle ich ärgerlich, doch Istan ignoriert mich total. Auch Jasper, der seit langen mal wieder ohne Nasenleine laufen darf, verhält sich wie ein grober Flegel. Er zieht mal nach links, mal nach rechts und reißt derart am Nackenseil, das es Edgar richtig zur Seite rückt.

Auf einmal kommt Hardie nach vorne und gesellt sich zu Sebastian. Istan findet das geradezu riesig und macht es ihm nach. Jafar denkt sich anscheinend, was die machen kann ich auch, und läuft nun neben Istan. Edgar und Jasper lassen sich auch keine zweimal aufordern ihre Kameraden in der ersten Reihe überholen zu wollen. Die Nackenseile verwickeln sich miteinander und direkt hinter mir laufen sechs Kamele, die jeden Augenblick nach vorne rasen könnten, um mich platt zu walzen. Ein äußerst ungutes Gefühl dehnt sich in mir aus. Mit den Nasenleinen ist diese gefährliche Formation einfach nicht möglich. Sie sind gezwungen ihrem Vordermann zu folgen aber ohne Sättel besitzen wir keine Möglichkeit die Nasenleinen zu befestigen. (Zu diesen Zeitpunkt wissen wir noch nicht, dass manche Karawanenführer die Nasenleinen auch am Schwanz des vorauslaufenden Kameles festbinden.) Obwohl das Nackenseil nahezu unzerstörbar ist, hält es die Kamele nicht zurück. Sie sind am Hals recht unempfindlich, laufen deswegen nebeneinander und genießen auf diese Weise bald unbegrenzt viel Bewegungsfreiheit.

„Ich knote die Seile kürzer,“ meint Tanja. „Okay,“ antworte ich und stoppe unsere Jungs. Doch leider hilft Tanjas Aktion kaum. Wenige Minuten später reihen sie sich in eine ähnliche Formation. Schnell eile ich voran. Sebastian ist der Einzige, den ich mit einer Nasenleine kontrollieren kann. Als wir über ein Steinplateau schreiten werden die Ausreißer immer dreister. Sie wollen sich gegenseitig überholen und beginnen vor Ausgelassenheit und Freude damit wie ein Springball in die Luft zu hüpfen. „Go back! Hardie! Istan! Go back!” ,brüllen Tanja und ich. Tatsächlich hören sie, aber auch diesmal dauert es nur Sekunden, bis sie wieder alle nach vorne drängeln. „Das sieht nicht gut aus Denis,“ warnt mich Tanja. „Stimmt, aber was sollen wir tun?“ „Ich würde sie hoppeln.“ „Dann dauert es ewig bis wir unser Camp erreichen,“ antworte ich Sebastian durch einen Gidyeawald ziehend.

Ich führe Sebastian rechts an einem Baum vorbei. Hardie und Jafar folgen, doch Istan möchte seinen eigenen Weg gehen und versucht den Baum auf der linken Seite zu umlaufen. Sofort spannt sich das Nackenseil um den unnachgiebigen Stamm. Jafar wird zurückgerissen. Brüllt weil ihm das Seil jetzt am Hals würgt. Auch Hardie wird ruckartig gebremst und brüllt auf. Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde bis das erbarmungslose Seil Istan auf die richtige Seite reißt. Er, und natürlich auch wir, haben Glück. Leicht kann so eine Situation ihm den Hals kosten.

Es ist wieder tierisch heiß. Wir schwitzen schrecklich, die Fliegen sind kaum noch zu ertragen und das grobe Geröll macht uns das Vorankommen nicht einfacher. Der Moment, in dem ich die Nase voll habe, ist gekommen. Mein Körper möchte sich nur noch ausruhen. Am liebsten würde ich mich in einem großen Loch vergraben. Weit weg von dem elenden Fliegenmeer, der Hitze und den unaufhörlichen Herausforderungen. Ich kämpfe gegen meine negativen Gefühle an, versuche nicht in ein emotionales Loch zu fallen als es wieder geschieht was besser nicht geschehen sollte. „Achtung Denis!“ ,brüllt Tanja bald explosionsartig zur Seite springend. Noch ehe ich meinen Körper in Sicherheit bringen kann, bricht hinter mir die Muskelkraft von sechs Kamelen aus.

Jasper wollte einen niedrigen Busch, direkt über den Boden abknabbern. Edgar ist aber weitergelaufen und hat dadurch das Nackenseil von Jasper gestrafft und ihn den Kopf hoch gerissen. Jasper ist daraufhin erschrocken und wie eine Knallerbse mit allen Vieren in die Luft gesprungen. Edgar ist dadurch ebenfalls erschrocken und wie ein geölter Blitz nach vorne gerast. Er hat den sowieso immer nervösen Istan angesteckt und auf einmal stürmt die gesamte Kamellawine in einer vernichtenden Macht auf mich zu.

Mein Adrenalinspiegel schießt mir durch die Schädeldecke. In mir detoniert eine Urkraft, die meine Beine in einem einzigen Augenblick auf Höchstgeschwindigkeit bringt und meinen Körper nach vorne katapultieren lässt. Sebastian befindet sich rechts und die anderen Fünf links von mir. Wie ein Blitz durchfährt es mich. Ich muss da raus, ansonsten werde ich von unseren Expeditionspartnern überrannt. Gemeinsam rasen wir über das Geröll. Weil ich mit der sich steigernden Geschwindigkeit der Kamele nur wenige Sekunden mithalten kann, schließt sich die Zange. Einer Eingebung folgend, schleudere ich meinen rechten Arm nach oben und treffe mit meiner Faust Sebastians Kehlkopf. Erschrocken reißt er seinen Kopf zurück und wird für den Bruchteil einer Sekunde langsamer. Das ist der Moment, in dem ich meinen Körper an seinem rasenden, massigen Leib vorbeidrücke, um mich auf der rechten Seite der Kamellawine in Sicherheit zu retten. Noch immer halte ich die Führungs- und Nasenleine in meinen Händen. „Denis! Denis!“ schreit es durch die staubgeschwängerte Luft. Ungeheure Schmerzen schießen mir durch die rechte Hand. Das Denken ist begrenzt, bricht fast zusammen. „Nicht loslassen! Bloß nicht loslassen!“ ,durchdringt ein heißer Schrei den Nebel meiner Schaltzentrale. Ich strauchle, werde von Sebastians Rumpf in einen Baum gedrückt. Äste peitschen mir ums Gesicht. Meine Lunge brennt wie die Hölle und ich glaube in diesem Moment in eine Welt zu treten die mit weicher, grauer Watte ausgestopft ist. „Bleib da! Du gehst nicht! Halt die Seile fest!“ ,befiehlt mir eine grobe aber klare innere Stimme. Wie ein Reigen des Wahnsinns rasen nun die Kamele laut brüllend in einem großen Kreis. „Denis! Denis!“ ,hämmert ein Angstruf in meinem Trommelfell.

Durch die Nasen- und Führungsleine, die ich mit geliehener, unmenschlicher Kraft in meinen vor Schmerz brüllenden Händen halte, ist Sebastian gezwungen seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Er zerrt mich noch ein paar Meter hinter sich her, bis er schwer atmend zum Stillstand kommt. Die anderen fünf Wüstentiere hüpfen wie die explodierten Handgranaten um das Zentrum, welches Sebastian und ich bilden, bis sie ihren tobenden Tanz beruhigen. Plötzlich halten sie inne. Schnaufen heftig und sehen mich mit ihren aufgerissenen Augen an. Der Schmerz in meiner Hand steigert sich urplötzlich bis zum absolut Unerträglichen. „Ahhhh!“ ,entfährt es mir und ich gehe in die Knie. In diesem Moment stürmt Tanja um den Kamelkreis, nimmt mir die Führungs- und Nasenleine aus der Hand. „Was ist los? Bist du verletzt?“ ,klingt es in meinem Kopf, während ich mich vor Pein krümme. „Nein… Ich bin okay… Ich bin okay…“ ,stottere ich auf den harten Steinen kniend und meine rechte Hand haltend. Langsam wird es wieder klar in meinem umnebelten Geist. Die Qualen lassen etwas nach und ich finde meine Sprache wieder. „Es ist der Knöchel. Der Knöchel meiner rechten Hand den mir Edgar vor bald zwei Monaten verletzt hat,“ schnaufe ich unter Tränen. Vorsichtig untersuche ich jetzt die Hand, um zu sehen ob noch alles an seinem Platz sitzt. Der Handknöchel des kleinen Finger ist dick geschwollen aber zum Glück nicht ausgekugelt. Während Tanja Sebastian hält, bleibe ich noch ein paar Minuten am Boden sitzen, bis ich mich wieder gefangen habe.

„Wir legen ihnen die Hoppeln an,“ sagt Tanja wenig später. „Ja,“ antworte ich kleinlaut. Nur eine halbe Stunde danach führe ich Sebastian und Hardie. Sie sind nicht gehoppelt aber zwei Kamele die man ohne Nasenleine führt bedeuten keine Gefahr. Die anderen Vier tragen jetzt wieder ihre Hoppeln. Sie laufen alle einzeln, sind also nicht mehr mit dem Nackenseilen aneinander gebunden. Ihr Herdentrieb ist so stark, dass sie Sebastian und Hardie folgen. Trotzdem bildet Tanja das Schlusslicht, damit nicht einer von ihnen zurückbleibt.

Um 11:00 Uhr erreichen wir unser Camp. Wir binden die Ausreißer an ihre Bäume und setzen uns in den Halbschatten der Gidyea. Wie benommen sitzen wir lange Zeit da und trinken einen Becher Wasser nach dem anderen. „Das war ganz schön knapp,“ bricht Tanja das Schweigen. „Verdammt knapp. Für einen kurzen Augenblick dachte ich es nicht zu schaffen,“ antworte ich meine Hand massierend. „Es war ein Fehler sie nur mit den Nackenseilen aneinander zu binden.“ „Absolut. Man lernt nie aus,“ gebe ich ihr recht.

Am Nachmittag packen wir alles zusammen. Seitdem wir hier angekommen sind haben wir uns nicht ausruhen können. Im Gegenteil, dieses Camp hat uns mehr Energie und Kraft aus den Knochen gezogen als der härteste Wüstenlauf. Wir sind uns einig, dass dieser Ort uns kein Glück bringt und entscheiden gleich morgen Früh weiterzuziehen. Wir hoffen die nötige Ruhe auf Marion Down Station zu bekommen. Es sind zwar noch über 120 Kilometer durch hartes Gelände aber es ist leichter jeden Tag zu Laufen als um seinen Forbestand kämpfen zu müssen.

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